In dem Dorf Tsagarada, auf der griechischen Halbinsel Pilion, steht eine tausendjährige Platane. Ich wusste das nicht, als ich das Dorf zum ersten Mal betrat. Meine Absicht war es, den nördlichen Pilion, so weit machbar, auf den Kalderimia, den alten, gepflasterten Eselspfaden, zu durchwandern. Am Vortag war ich von dem Küstenstädtchen Agria nach Ano Lechonia gegangen und von dort aus der Trasse der Schmalspurbahn gefolgt, die über etwa zwanzig Kilometer nach Milies führt. Anfang des letzten Jahrhunderts erbaut, ist diese Bahn nur noch während der Sommermonate im Einsatz, sodass ich jetzt, im März, unbedenklich auf den Schienen wandern konnte, wo das nötig war. Als ich am folgenden Morgen in Milies aufbrach, stieg Nebel aus den Wäldern, hüllte die Berge ein und verschleierte den Blick auf die tiefer gelegenen Olivenhaine und die Bucht des Pagasitischen Golfs. Zum ersten Mal, seit ich in Griechenland angekommen war, nieselte es. Ein rauchiger Geruch durchzog das Dorf, das in dieser Stunde völlig verlassen schien: enge, grob gepflasterte Gassen und Treppen; ebenso schöne wie trutzige Steinhäuser, die mir vorkamen, als wären sie seit langer Zeit unbewohnt. Die auf dem Pilion allgegenwärtigen Wach- und Hofhunde erinnerten mich mit ihrem hartnäckigen Gebell freilich daran, dass dem nicht so war. Ein Blick auf die Karte hatte mir gezeigt, dass Tsagarada das günstigste (oder auch einzig mögliche) Ziel war auf der Wanderung nach Zagora, der größten Ortschaft des Pilion. Also folgte ich dem Pfad in die Hügel. Er durchquerte die dichten, weitläufigen Wälder, für die der nördliche Teil der Halbinsel bekannt ist – Kiefern, Eichen, Platanen, mannshohe Farne –, aber auch düster-verkarstete Schneisen, die Brände in diese Wälder geschlagen haben. Einmal löste sich der Weg in Gestrüpp und Buschwerk auf; man musste sich einige Meter durch das Dickicht kämpfen, um ihn wiederzufinden. Ein andermal geriet ich in Gedanken (ich weiß nicht, was für welche) und stellte plötzlich fest, dass ich schon seit längerem in die falsche Richtung lief. Glücklicherweise traf ich einen Waldarbeiter, der seine Kettensäge beiseite stellte und mir mit Händen und Füßen erklärte, wohin ich meine Schritte zu lenken hatte, nachdem ich ihm auf der Karte gezeigt hatte, was mein Ziel war. Die Wanderung nach Tsagarada mochte etwa fünf Stunden gedauert haben. Eine weitere Stunde dauerte es, von der Bogenbrücke, bei welcher der Weg endet, zu dem Ortsteil Agia Paraskevi zu gelangen – denn Tsagarada zieht sich über manchen Kilometer durch die Hügel, sodass es einem unkundigen Besucher eher vorkommen mag, er durchquere eine Handvoll winziger, aneinander anschließender Dörfer. In Agia Paraskevi angekommen, kaufte ich mir ein Bier, setzte mich auf eine Wiese und betrachtete – wie jeden Abend – eine Weile lang die Berge, den Wald und das Meer. Es ist auch das, was ich beim Wandern lerne: einfach gar nichts zu tun und mich in den Fluss der vorbeiströmenden Sekunden und Minuten einsinken lassen. Nach einer Weile dann holte ich den Reiseführer hervor, um herauszufinden, ob es etwas in diesem Tsagarada zu sehen gäbe. Da erfuhr ich von der tausendjährigen Platane; ich erfuhr auch, dass dieser offenbar weithin berühmte Baum in dem Teil des Ortes stand, in dem ich mich gerade aufhielt und den man mir als „town center“ genannt hatte. So beschloss ich dann, mir die Platane anzuschauen, ehe ich mir eine Unterkunft für die Nacht und eine Taverne zum Einkehren suchte. In den Skargat-Büchern erzähle ich von einem Baum, der wohl ungefähr so alt ist wie die Platane von Tsagarada. Es handelt sich um eine Linde. „Ihr Stamm (...) hatte die Farbe von altem Blut. Durch ihr hellgrünes, prachtvolles Blätterkleid ging immer ein leises Rauschen. Selbst, wenn es windstill war. Und obwohl bereits der Herbst nahte, schmückten unzählige sternförmige Blüten ihre Zweige.“ So habe ich die Linde im ersten Skargat-Band beschrieben. Ich muss bekennen, vor meinem Besuch in Tsagarada, habe ich noch nie einen tausendjährigen Baum gesehen. Ansonsten hätte ich die Linde in Skargat vielleicht anders gehandhabt. Nicht, weil sie magisch ist. Sondern, weil sie nicht magisch genug ist. Es fällt mir schwer zu beschreiben, welche Wirkung von dieser Platane ausgeht. Sie steht auf einem kleinen Platz, der von einer Kirche und ein paar Tavernen gesäumt ist. Tische und Stühle wiesen darauf hin, dass die Leute hier zu sitzen, zu essen und zu trinken pflegen, doch an diesem Abend war ich allein mit der Platane. Ihr Stamm hat einen Umfang von vierzehn Metern. Aber das ist nicht das Entscheidende. Einer ihrer Äste ist so wuchtig, dass er wie ein zweiter Baum wirkt, der aus der Verknotung des Stammes herausgewachsen ist, und in ihren äußersten Verstrebungen reichen die Zweige so weit, dass mir in der Erinnerung scheinen will, der Dorfplatz von Agia Paraskevi werde völlig von der Platane überspannt. Doch auch das ist nicht das Entscheidende. Entscheidend ist, dass die Platane nicht den Eindruck erweckt, als bestehe sie aus Holz. Ihre Rinde sieht nicht aus und fühlt sich nicht an wie die Rinde anderer Bäume. Es ist, als sei die Platane aus einem lebenden, fühlenden Fels erwachsen; oder habe sich im Lauf der Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte langsam in etwas verwandelt, was weder Stein ist noch Mineral oder Gewebe. So erscheint die Platane von Tsagarada wie ein Lebewesen aus einer anderen Weltenzeit; wirkt in Wahrheit noch sehr viel älter, als sie es ist; so alt, dass man meinen könnte, sie habe überdauert von einer frühen Dämmerung her, da längst kein Mensch die Wälder durchstreifte. Umso erstaunter war ich zu sehen, dass Schnitzereien in die Rinde der Platane geritzt sind. Schnitzereien der Art, dass da zwei Buchstaben stehen, mit einem Pluszeichen verbunden und von einer Linie in Form eines Herzens umgeben. Und nicht wenige von ihnen. Es wunderte mich, dass sich die Leute trauten, die Platane mit solchen Trivialitäten zu behelligen. Mir kam das ungebührlich vor. Ein bisschen lächerlich, und ja, auch vorwitzig. Etwa ein Woche später kam ich nach Athen. Nach einer ruhigen Nacht in der Plaka gelang es mir, die touristische Großtat zu vollbringen, als Erster eine Eintrittskarte für die Akropolis zu kaufen (daheim hatte man mir mit der Trennung gedroht, sollte ich es wagen, mich um diese Besichtigung zu drücken), sodass ich die Tempelruinen eine kurze Zeit lang fast für mich alleine hatte. Ich war überrascht, wie entrückt und friedlich sich der Ort anfühlte. So, als würde man tatsächlich in einer anderen Zeit schweben: im golden-diesigen Morgenlicht, hoch über den Dächern Athens, die sich bis in unabsehbare Ferne erstrecken, und umgeben von dem immerwährenden Rauschen des Stadtverkehrs, der wie das Murmeln übellauniger und verstockter Götter klingt. Gar so alleine war ich denn übrigens doch nicht. Abgesehen von ein paar anderen eifrigen Touristen gab es die unvermeidlichen Bauarbeiter und Restauratoren sowie eine Reihe von Katzen, die wohl ganz gut leben von den Zuwendungen der Akropolis-Angestellten und -Besucher. Und es gab einen Trupp Soldaten. Letzterer hat für eine besondere Attraktion gesorgt, die ich zugegebenermaßen eine Weile lang faszinierender fand als sämtliche Tempelruinen. Unter dem lautstarken Kommando ihres Offiziers sind diese Soldaten quer über die Akropolis gestapft, dabei verschiedene Arten von Marschschritt demonstrierend, um die griechische Flagge am – vermute ich – höchsten Punkt des Tempelberges zu hissen. Zunächst waren sie, sechs Gewehr- und ein Fahnenträger sowie der Offizier, alleine auf ihrem Marsch. Bald aber schloss sich ihnen eine kleine Gruppe Touristen an, die in mehr oder weniger respektvollem Abstand folgte. Bis die Flagge dann ein Stück weit der glimmenden Morgensonne entgegen stieg, während die Soldaten, die vermutlich nicht für die Schönheit ihrer Singstimmen ausgesucht wurden, aus vollen Kehlen die griechische Hymne brüllten. Während ich dieses Schauspiel betrachtete, musste ich an die tausendjährige Platane von Tsagarada denken. Plötzlich meinte ich zu verstehen, was es mit den Schnitzereien auf sich hat. Ist es nicht am Ende eine ähnliche Sache, so fragte ich mich, in den Stamm eines tausendjährigen Baumes Initialen und Herzchen einzuritzen und auf der Akropolis eine Flagge zu hissen? Geht es vielleicht in beiden Fällen darum, etwas so Zerbrechliches und Flüchtiges wie das eigene Leben, die eigene Liebe oder die Vorstellung, die man sich von seiner Heimat macht, an etwas zu überantworten, das, nach menschlichen Maßstäben, unvorstellbar alt ist und die Zeiten zu überdauern verspricht? Die letzte Etappe meiner Pilion-Wanderung, ehe ich nach Zagora kam, sollte das Küstendorf Chorefto sein – ein Dorf, das, nach allem was ich höre, im Sommer so voll ist, dass man froh sein kann, am Strand genügend Platz zu finden, um sein Handtuch auszubreiten. Als ich das Dorf betrat, war es hingegen verwaist. Die Holzläden an den Fenstern waren geschlossen, die Geschäfte, Bars und Restaurants leblos; Stille lag über den Straßen und Häusern, nur durchbrochen von dem ewigen, murmelnden Selbstgespräch des Meeres. Der Strand war ebenfalls leer: weißer Sand, so weit das Auge reicht. In einiger Entfernung sah ich ein junges Paar. Er machte ein Foto von seiner Freundin, vor dem Hintergrund der leuchtend blauen, von funkelnden Lichtern übertanzten Wasser. Dann stiegen die beiden in ihr Auto und fuhren davon. Zurück auf der Hauptstraße von Chorefto entdeckte ich ein weiteres Lebenszeichen: ein paar Männer waren damit beschäftigt, Reparaturen an der Leuchtreklame eines Restaurants vorzunehmen. Und ich sah ein Rudel halbwilder Hunde – auch das gibt es häufiger auf dem Pilion. Einer der Hunde folgte mir, als ich mich umdrehte und auf der Hauptstraße zurückging. Während ich meine Trinkflasche an einem Brunnen füllte und mich, nicht zum ersten Mal auf dieser Wanderung, fragte, wo und wie ich heute Nacht schlafen würde, wartete der Hund in einigem Abstand. Und noch, als ich einen Pfad einschlug, der hügelwärts in Richtung Zagora führte, trabte er ein Stück weit hinter mir her. Ein alter Gedanke, unendlich oft gedacht, aber, meine ich, doch von keinem Menschen zu begreifen: Wie seltsam es eigentlich ist, dass wir einen winzigen Ort in der Zeit bewohnen, durch einen unüberwindlichen Abgrund von allem getrennt, was vorher kam und nachher kommen mag. Da kann man Geschichte treiben, so viel man will – letztlich weiß niemand, wie es sich angefühlt haben mag, vor fünfhundert Jahren im Schatten der Platane von Tsagarada zu ruhen. In alten Zeiten war der Hund ein Sinnbild der Melancholie. Ich denke oft an ihn (oder sie?), der mich ein paar Minuten lang durch die Straßen von Chorefto begleitet hat. Aber ich weiß nicht mehr, wie er aussah. Noch öfter denke ich an den tausendjährigen Baum, in dessen Lebenspanne mein Besuch ja nicht einmal ein Lidzucken war. Ich denke an Tsagarada, ich denke an den Dorfplatz von Agia Paraskevi, und ich denke daran, wie es war, die Hand an den Stamm der uralten Platane zu legen. Doch ich könnte nicht beschwören, dass das, was ich hier aufgeschrieben habe, wirklich etwas mit meinen Gedanken und Gefühlen an jenem Märzabend zu tun hat. Und selbst, wenn mein Leben davon abhinge, wäre ich nicht in der Lage, mich auch nur an ein einziges der Buchstabenpaare zu erinnern, die irgendwer, irgendwann eingeritzt hat, dort in das felsige Holz der Platane, während ein Moped durch die Straßen des Dorfes knatterte, der Kellner in der nahegelegenen Villa ton Rodon etwas Wein einschenkte, und der Wind mit vorjährigen Blättern spielte.
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Nun ist es so weit: der dritte und letzte Skargat liegt beim Verlag.
Die Romane begleiten mich seit 2010; die ersten Zeilen der ersten Fassung des ersten Bandes wurden im Sommer dieses Jahres während einer Irland-Reise geschrieben. Etwa sechseinhalb Jahre habe ich mit Mykar, Vanice, Justinius, Scara und den anderen verbracht, wobei die Arbeit an den Bänden zwei und drei zusammengenommen nicht einmal halb so viel Zeit in Anspruch genommen hat wie die an Band eins. Jedenfalls fiel mir der Abschied nicht leicht. Aber irgendwann muss man seine Figuren nun mal in die Welt entlassen, in der Hoffnung, dass sie ihren Weg machen werden. Mir bleibt, allen zu danken, die mich ein Stück weit auf dieser Reise, die nun zu Ende geht, begleitet haben. Und die freue mich, dass die nächste Reise bereits begonnen hat – vielleicht treffen wir uns unterwegs ja mal wieder!" Vorbemerkung: Im Sommer habe ich Rumänien bereist. Diese Reise hat mich aus einer Vielzahl von Gründen noch lange beschäftigt, nachdem ich das Land bereits wieder verlassen hatte. Irgendwann habe ich mich entschlossen, aus meinen verschiedenen Notizen einen Text zusammenzustellen, mit dem ich mir zumindest über einen Teil meiner rumänischen Erfahrung gewissermaßen Rechenschaft ablegen wollte. Hier also mein kleiner Reisebericht: Ganz im Norden Rumäniens, fast schon an der Grenze zur Ukraine, liegt – zwischen Feld, Wald und Hügeln – das Dorf Săpânța. Dieses Dorf ist weit über die Landesgrenze bekannt geworden, weil sich in ihm der „Fröhliche Friedhof“ befindet. Ich mag Friedhöfe, wollte mir also die Gelegenheit nicht entgehen lassen, diesen ganz besonderen Vertreter seiner Art zu besuchen. In der Nacht, die meinem Besuch vorangeht, schlafe ich schlecht. Dafür sind zum einen die Stechmücken verantwortlich, die sich gar nicht satt saugen können. Zum anderen ein überaus eifriger und ausdauernder Hahn, der schon Stunden vor Einbruch der Dämmerung zu krähen beginnt – gleich vor dem Zimmerfenster – und damit erst wieder aufhört, als der Morgen weit vorangeschritten ist. Vor allem aber ist für meine Schlaflosigkeit der Umstand verantwortlich, dass ich am Tag zuvor einen anderen Friedhof besucht habe: einen Armenfriedhof, auf dem einige der Männer verscharrt wurden, die zur Zeit des sogenannten Kommunismus in dem nahegelegenen Gefängnis von Sighet zugrunde gegangen sind. Der Armenfriedhof ist nun eine Gedenkstätte. Er liegt gleich an der Straße, die nach Săpânța führt. Und wenn man auf ihm umhergeht, hört man den Lärm der vorbeirauschenden Autos. Es ist ein drückend-heißer Nachmittag; Arbeiter polieren die Steinplatten, in welche die Namen der Opfer der Diktatur eingemeißelt sind, streunende Hunde suchen Zuflucht in den Schatten der Bäume, und auf einem Stück eingefriedeter Wiese befinden sich die Gräber der Gefangenen. Man kann diesen Teil des Friedhofs durch eine Lücke in der Hecke betreten, aber die vereinzelten Kreuze wirken so verloren, dass ich davor zurückschrecke, näher an sie heranzugehen. Unablässig rauscht der Verkehr, manchmal bellt ein Hund, das Licht sinkt schwer und gleißend vom ausgebleichten Himmel herab und ich fühle mich wie in einer Zeitblase, in der die Sekunden von Augenblick zu Augenblick langsamer verstreichen. Bald darauf sitze ich im Auto, der Armenfriedhof verschwindet im Rückspiegel, und wenn man mich fragte, ich wüsste kaum noch zu sagen, ob sich auf dem von der Hecke umgebenen Wiesenstück zehn oder fünfzig Gräber befinden. Als ich in der Nacht wach liege und mich wundere, wie es der Hahn durchhält, über Stunden hinweg markerschütternd zu krähen, denke ich allerdings nicht an den Friedhof, auf dem einige der Toten des Gefängnisses von Sighet liegen, sondern an das Gefängnis selbst. Foto von Cristian Bejan (Eigenes Werk) [CC BY-SA 3.0 rovia via Wikipedia Commons Auch das Gefängnis ist eine Gedenkstätte, seit vielen Jahren schon, und ich habe es unmittelbar vor dem Friedhof besucht („besucht“ – was für ein seltsames Wort in diesem Zusammenhang). An die vier Stunden bringe ich in der Gedenkstätte zu und schiebe mich mit dem Strom der anderen Besucher durch die über achtzig Ausstellungsräume, die großenteils in ehemaligen Zellen untergebracht sind. Da ich Rumänisch nicht verstehe, also keine der unzähligen Schrifttafeln lesen kann, bin ich auf die Ausführungen eines Begleitheftes angewiesen, das in verschiedenen Sprachen an die wenigen ausländischen Touristen verteilt wird. Vielleicht fällt es mir deshalb so schwer, zu begreifen, was für ein Ort dieses Gefängnis gewesen ist. („Es war ein Vernichtungsgefängnis“, sagt eine rumänische Bekannte.) Offenbar wurden hier hochrangige oder aufgrund ihres Einflusses und Intellekts als besonders bedrohlich eingestufte Männer eingesperrt – Politiker, Wissenschaftler, Schriftsteller, Geistliche verschiedener Konfessionen –, die gleichsam aus der Wirklichkeit getilgt, aber nicht gleich hingerichtet werden sollten. Die Auslöschung der Persönlichkeit ging so weit, dass die Gefangenen nicht einmal das Recht hatten, ihren Namen zu nennen. Anscheinend war ihnen, abgesehen von Atmen und still in ihren einsamen Zellen sitzen, annährend alles verboten. Für kleinste Vergehen konnten sie mit oft tagelanger Isolationshaft in lichtlosen, kahlen Zellen, nahezu ohne Luftzufuhr, bestraft werden, wo man sie nackt an den Boden kettete. Die meisten Häftlinge überstanden nicht einmal zwei Jahre in dem Gefängnis zu Sighet: so elend war die Verpflegung, so grausam die Behandlung durch die Wärter, so trostlos das Ausharren. Während die Mücken surren, der Hahn kräht und ich darauf warte, dass die Sonne aufgeht, versuche ich es mir vorzustellen: tagein, tagaus in einem kleinen, feuchten, ewig düsteren Raum leben zu müssen, ohne Bücher, ohne Gespräch, ohne die Ablenkung der Arbeit, ja sogar ohne einen Namen, in ständiger Angst vor Gewalt und Demütigungen, hungernd, nicht einmal wissend, wie lange man eingesperrt bleiben wird, vielleicht ein Jahr, vielleicht für immer, oder ob einen morgen die eigene Hinrichtung oder ein Verhör in irgendeinem Kellerraum erwartet, sodass der zehnminütige Hofgang das einzige Glücksversprechen ist, die einzige Zukunft, die man zu erwarten wagt. Und ich denke, dass das Gefängnis von Sighet vielleicht weder auf die Umerziehung, noch auf den Tod der Gefangenen zielt – obgleich das eine, verstanden als gewaltsames Zerbrechen des Willens, wie auch das andere die häufigste Folge der Haft gewesen sein mag – sondern darauf, die Insassen schon zu Lebzeiten in Gespenster zu verwandeln. In der Nacht regnet es immer wieder. Als ich am Morgen den Fröhlichen Friedhof betrete, ist der Himmel wolkenverhangen und zwischen den enggesetzten Gräbern haben sich große Pfützen gebildet, von denen einige aussehen, als würden sie in bodenlose Tiefe reichen. Dennoch füllt sich der Friedhof bald mit Besuchern, die gleich busweise herbeigeschafft werden, und ich versuche, mich daran zu erinnern, was ich über den Ort weiß. Der Holzschnitzer, Maler und Dichter Stan Ioan Pătraș, geboren 1907 oder 1908, gestorben 1977, hat hier ein Kunstwerk geschaffen, das, so liest man, dem Tod seinen Schrecken nehmen soll. An die siebenhundert Grabkreuze hat er gestaltet, darunter sein eigenes. Die Kreuze sind in Blau gehalten, mit bunten Verzierungen sowie einem pfeilförmigen Dach versehen, der himmelwärts zu weisen scheint, also die vermutlich bevorzugte Reiserichtung der Toten angibt. Was die Kreuze aber vor allem auszeichnet, ist das im Stil naiver Malerei gehaltene Porträt der Toten, das sie ziert, sowie das unterhalb des Porträts angebrachte Gedicht, das in wenigen Versen – mal spöttisch-vergnügt, mal wehmütig, mal bitter – das Leben des oder der Verstorbenen gleichsam auf den Punkt zu bringen sucht. Foto von Marian Gabriel Constantin from Suceava, ROMANIA (Cimitirul vesel) [CC BY-SA 2.0 via Wikimedia Commons In der deutschen Übersetzung von Rodica-Cristina Țurcanu liest sich das etwa so: „Hier ruhe ich, sogar, Man nennt mich Ion Husar. Sehet mich, bitte, genauer an: Guten Schnaps hab’ ich gebrannt und in Fässer ihn getan. Kommet’, ihr Männer, zu mir! Schnaps, in die Flasche, bekommet ihr. Bringet ihn euren Liebsten auch, Den Schnaps von der Pflaum’! Und trinket fröhlich. Schnaps von der Kirsch bekommet ihr. Und trinket mit euren Frau’n. Und trinket auf mich. Dein weiter bekommt ihr mich nicht zu Gesicht: Mit 38 Jahren, verziehe ich mich.“ Oder: „Da legt’ ich mich hin zur ewigen Ruhe, Ich, die Greisin des Greises Ilie. Zeit meines Lebens mocht’ ich die Kühe. Die Milch zu melken meinen Töchtern die tägliche Nahrung zu schenken. Mit 58 verlass ich die Welt hienieden, Und gehe heim, zufrieden...“ Oder: „Her hab’ ich mich zur Ruhe gelegt Ich, Pop Ileană, und jung vermählt, Wie man es pflegt. Ein guter Mann hat mich zur Frau genommen Nur hatt’ ich leider kein Glück, Mit ihm zu leben, noch ein Stück. Zwei Kindern gab ich das Leben. Eins ist dem Tode geweiht. „Dies nehm’ ich mir mit.“ Sagt sie sich, Und mit fünfundzwanzig, ins Jenseits tritt.“ Ich weiß nicht, ob es an der beinah schlaflosen Nacht liegt, an dem trüben Wetter oder an den Sigheter Erinnerungen – jedenfalls kommen mir die Grabkreuze von Meister Pătraș nicht sehr fröhlich vor. Es liegt eine harsche Endgültigkeit in diesen unbekümmert-ungelenken Gedichten, als könnte man ein Leben wirklich in einer Handvoll Zeilen erledigen, es auf den unabänderlichen Kern seiner Wahrheit zusammenschrumpfen, in dem man sagt: Sie hieß so und so, webte und spann, hatte drei Kinder, vertrug sich leidlich mit ihrem Mann und starb mit zweiundsechzig Jahren. Und die Bilder, die den Menschen bei der sein Dasein bestimmenden Arbeit, in einer für ihn sozusagen unvermeidlichen Haltung einzufangen suchen – beim Mähen oder Jagen oder Fahrradfahren oder Trinken oder Essen oder eben Spinnen – verstärken diesen Eindruck, indem sie in den entindividualisierten, typenhaften Gestalten der naiven Malerei eine vielleicht amüsante, vor allem jedoch unüberwindliche, geradezu schicksalshafte Erstarrung und Determiniertheit behaupten. Ein paar Tage vor Sighet und Săpânța haben wir eine Wanderung in der Gegend des, ebenso wie jene anderen Orte, im Kreis Maramureș gelegenen Dorfes Moisei unternommen, das 1944 von ungarischen Soldaten niedergebrannt wurde, nachdem sie neunundzwanzig der Einwohner erschossen hatten. („Brutal erschossen“ sagt der Reiseführer – wie erschießt man jemanden nicht-brutal?) Wir hatten uns nicht gerade verirrt, waren aber unsicher, welche Richtung wir einschlagen sollten, um den Hügel zu erreichen, den wir besteigen wollten. Also wandten wir uns an eine Frau, die gerade aus einem beim Weg gelegenen Haus trat. Es stellte sich heraus, dass wir uns auf Italienisch verständigen konnten, und bald darauf fanden wir uns im Wohnzimmer der Fremden wieder, die sich uns als Ana vorstellte. Zuerst lud sie uns zu einem Bier ein; dann zu russischem Salat und Fleischklößchen; schließlich – unterdessen waren eine Nachbarin und Anas Partner Luciano hinzugekommen – zu Țuică de Prune, selbstgebranntem Pflaumenschnaps. Als wir uns ein paar Stunden später verabschiedeten, hatten wir nicht nur in Erfahrung gebracht, was der richtige Weg war, sondern auch, dass Ana und Luciano seit vielen Jahren in Mailand leben und arbeiten, wo sie sich kennengelernt haben, und dieses Haus, das seit Generationen im Besitz von Anas Familie ist, zu ihrem Refugium in dem Ort, dem sie zufällig beide entstammen, gemacht haben. Außerdem konnten wir, ehe wir Lebwohl sagten, mit Anas fast achtzigjährigem Bruder Ion anstoßen, dessen heiter-melancholisches Lächeln mir lange im Gedächtnis bleiben wird. Es ist vielleicht das erste Mal, dass ich mich einem Menschen, mit dem ich keine Sprache teile, in dessen Gesellschaft ich nur wenige Minuten verbringe und den ich wahrscheinlich niemals awiedersehen werde, auf eine Art verbunden fühle, als hätte ich ihn lange Jahre gekannt. Foto von Daniel Illger (privat) An diese unerwartete Begegnung denke ich, während ich dies hier schreibe. Dann schiebt sich ein anderes Bild über die Erinnerung an diese frohen Stunden. Es ist das Bild des sogenannten „Hauses des Volkes“, das sich der rumänische Diktator Nicolae Ceauseșcu errichten lassen wollte – wohl als steinernes Abbild der eigenen Größe –, das aber, nach über sechsjähriger Bauzeit, noch nicht fertig gestellt war, als die Wechselfälle der Geschichte ihn und seine Frau Elena von den Höhen der Macht kippten und, am 25. Dezember 1989, vor einem a abluden. Heute firmiert das „Haus des Volkes“ unter der ebenfalls bedenkenswerten Bezeichnung „Palast der Republik“ und dient als Sitz beider Kammern des rumänischen Parlaments. Wobei „Palast“ sicherlich das treffendere Wort für dieses „Haus“ ist, das über eine Grundfläche von 65.000 Quadratmetern verfügt, annähernd dreihundert Meter lang ist und 5100 Zimmer, Säle, Hallen und Flure in sich schließt, darunter Salons, die eine Größe von 2000 Quadratmetern erreichen. Man weiß, dass Nicolae Ceauseșcu, der Anfang der 70er Jahre als großer Staatsmann und Reformer galt und sogar für den Friedensnobelpreis gehandelt wurde, ein ganzes Stadtviertel hat abreißen lassen, um Platz für seinen Traum zu schaffen. Man weiß auch, dass 25.000 Mann ständig im Dreischicht-System an dem Palast arbeiten, dass die Ceauseșcus die Baustelle 428 Mal besuchten und nach Lust und Laune Änderungen an den architektonischen Plänen befahlen, dass 3500 Tonnen Kristall und 700.000 Tonnen Stahl verbaut wurden und die gold- und silberbestickten Samt- und Brokatvorhänge, die die Fenster des Gebäudes zieren, zusammengenommen eine Fläche von 200.000 Quadratmetern abdecken würden. Foto von Daniel Illger (privat)
Wie so oft sagen die Zahlen und Statistiken zugleich alles und nichts. Sie sagen wenig über den Widerwillen, bis hin zu bitterem Ekel, der die Miene der durchaus freundlichen und gesprächigen Hotelmitarbeiterin verdunkelt, eine Frau um die fünfzig, als wir sie auf das Bauwerk ansprechen. Sie sagen auch wenig über den bizarren, eigentlich lachhaften Eindruck, den der gigantische Palast und die ihn umgebenden Prachtstraßen erwecken, wenn man sich dem Ensemble von der Altstadt Bukarests her nähert. Auf mich wirkt es, als wären infolge eines kosmischen Unfalls, eines unbegreiflichen Risses im raumzeitlichen Gefüge des Universums, zwei Städte, die nicht das Geringste miteinander zu tun haben, die verschiedenen Epochen und vielleicht gar verschiedenen Welten entstammen, ineinander geschoben worden. Ich verspüre wenig Neigung, mich für eine Besichtigung des „Palastes der Republik“ anzumelden. Als ich vor dem Gebäude stehe, denke ich an eine Anekdote, die Jochen Schmidt in seiner „Gebrauchsanweisung für Rumänien“ kolportiert: „Die Treppenstufen hatten eine spezielle Höhe, Ceaușecu wollte nicht außer Atem kommen. Die riesige Treppe von rechts war für ihn gedacht, die von links für seine Frau, in der Mitte wollten sie sich treffen und ihre Gäste begrüßen.“ Nach allem, was ich höre, ist der „Palast der Republik“ – der parlamentarischen Geschäftigkeit zum Trotz – heute weitgehend ungenutzt. Dabei könnte er in der Tat zahllose Gäste beherbergen. Ich kann nicht anders, ich muss mir vorstellen, wie es wäre, einen phantastischen Roman zu schreiben, in dem ein derartiger Monumentalbau eine Rolle spielt. (Später erfahre ich, dass Jan Koneffke, der den Palast ein „so künstliches wie gigantisches Gruselschloss“, ein „riesenhaftes urzeitliches Tier“, die „wirkliche Emanation eines bösen Traums“ nennt, bereits dieselbe Idee gehabt hat.) In meinem Roman wäre der „Palast der Republik“ ein Mittelding aus Hotel und Friedhof. Viele hundert leere, schweigsame Zimmer ständen bereit, um die Geister derjenigen zu beherbergen, die sich verlaufen haben auf dem Weg vom Leben in den Tod. Eigentlich wäre ihre gewaltige Herberge nur als Zwischenstation gedacht. Aber weil sie so groß ist, würden viele der Gäste, anstatt für die weitere Reise zu verschnaufen, erst recht die Orientierung verlieren. Nacht für Nacht würden sie durch die Flure und Korridore, Säle und Salons irren und zunehmend verzweifelt nach einem Ausgang suchen. So würden Wochen, Monate und Jahre vergehen. Am Ende bliebe den erschöpften, ratlosen Geistern nichts anderes übrig, als darauf zu hoffen, dass früher oder später die Zeit und die Schwerkraft den Weg weisen würden – in die Freiheit oder wenigstens ins Nichts. ![]() Ich gehöre zu den Autoren, die sich immer derjenigen Figur am nächsten fühlen, über die sie gerade schreiben. Je nach dem, um wen es sich dabei handelt, kann diese Nähe recht unangenehm sein. Schließlich muss man sich die Gefühle der entsprechenden Figur für eine Weile zueigen machen – auch wenn es sich dabei um Verzweiflung oder Hass handelt. Justinius von Hagenow ist nicht gerade frei von unangenehmen Gefühlen. Dennoch hatte ich immer viel Freude daran, aus seiner Perspektive zu schreiben. Vielleicht deshalb, weil er selten seinen Humor verliert. Noch das größte Missgeschick kann ihm Anlass für einen – mehr oder weniger gelungenen – Witz auf eigene Kosten sein. Darin zeigt sich sein literarisches Erbe. Denn ursprünglich war die Idee, den Hard Boiled-Detektiv in die Fantasy zu verpflanzen: sozusagen ein Philip Marlowe mit Schwert und Schild. Wie Marlowe sollte Justinius übellaunig und sarkastisch sein; wie Marlowe sollte er zugleich von einem unstillbaren Hunger nach Gerechtigkeit getrieben sein; wie Marlowe schließlich sollte er ständig auf die Nase fallen, stets jedoch wieder aufstehen. Ob Justinius am Ende ein Fantasy-Marlowe geworden ist oder etwas ganz anderes, vermag ich nicht zu sagen. Spaß macht er mir jedenfalls immer noch. Ich hoffe, euch auch. Im Folgenden habt ihr Gelegenheit, das zu überprüfen. In einem Monat, am 27. August, erscheint nämlich Skargat – das Gesetz der Schatten, und aus diesem Anlass veröffentliche ich heute, sozusagen als Appetithäppchen, die ersten beiden Kapitel des Justinius-Handlungsstrangs. ![]()
![]() Ich habe mich öfters gefragt, wie sich die Beliebtheit des Haunted House-Films im amerikanischen Horrorkino der letzten Jahre erklären lässt. Geschichten um Spukhäuser bzw. Spukschlösser sind ja die älteste Form der Gruselliteratur (kennt noch jemand Horace Walpoles The Castle of Otranto von 1764?), und knarrende Türen, sich verselbständigende Einrichtungsgegenstände und allzu lebhafte Schatten mögen in Anbetracht des Zustands der Welt in der Tat antiquiert, wenn nicht harmlos erscheinen. Mir scheint aber, dass die klassischen Gespenstergeschichten einen großen Vorzug haben: Sie sind sehr intim und persönlich. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich habe überhaupt nichts gegen Zombiehorden, wahnsinnige Serienkiller (in verschiedenen Zuständen des Lebendig- und Totseins) und das fröhliche Verspritzen von Filmblut. Aber ein ruheloser Geist, der, häufig an einen bestimmten Ort gebunden, Erlösung sucht oder sein grausames Treiben im Jenseits fortsetzen will und zu dem einen oder anderen Zweck die Lebenden heimsucht – das hat, allem Gruselkitsch zum Trotz, eine gewisse Würde und Ernsthaftigkeit, die vielleicht daher rührt, dass fast jeder diese Geister kennt. Sie verdunkeln unser eigenes Leben, in Gestalt unverstandener Schmerzen, uneingestandener Schuld, die in allzu vielen Familien von einer Generation in die nächste weitergegeben werden. Vor diesem Hintergrund zählte James Wans The Conjuring von 2013 für mich zu den besten Horrorfilmen seit langer Zeit. Was den Film meiner Meinung nach auszeichnet, ist, dass er nicht nur das Böse, sondern auch das Gute sehr ernst nimmt. Das Gute kommt hier in Gestalt des Dämonologen-Ehepaars Lorraine und Ed Warren. The Conjuring war eben auch eine sehr schöne Liebesgeschichte. Ich denke, man muss kein Fan der historischen Warrens sein, um es berührend zu finden, wie Vera Farmiga und Patrick Wilson die Beziehung dieser beiden gestalten, für die die Liebe zueinander unauflöslich verbunden ist mit dem Kampf um eine gemeinsame Wahrheit. Man muss auch nicht das christliche Pathos der Inszenierung teilen, um zu sehen, wie der Horror hier etwas gewinnt dadurch, dass das Böse nicht einfach auf dem Durchmarsch ist, sondern ein wirklicher Kampf stattfindet, sich der Verzweiflung eine Hoffnung entgegenstellt. (So wie es in den 50ern üblich gewesen sein mag, dass der Held das Monster tötet und die blonde Schönheit heimführt, ist es heutzutage Standard, dass sich der Teufel am Schluss doch noch ins Fäustchen lachen darf – das eine kann ebenso langweilig, bieder und zeitgeistig-angepasst sein wie das andere.) Die gute Nachricht ist, dass The Conjuring 2 die Tugenden des Vorgängers teilt. Zu selbigen gehört auch die präzise, einfallsreiche Inszenierung, die sich nicht nur auf Schockeffekte (die allerdings im zweiten Teil überstrapaziert werden), sondern auch auf die Poesie des Grauens versteht. Von der Dramaturgie des Horrors ist der neue Fall der Warrens vielleicht einen Tick weniger gelungen als ihr erster Auftritt. Dafür sind die beiden persönlich noch stärker bedroht – Lorraine in ihrem Glauben, Ed in seinem Leben –, und wenn man die Figuren ins Herz geschlossen hat, wird man für das Genre ungewöhnlich viele Herzschmerz-Momente erleben. Dazu gehört auch, dass sich The Conjuring 2 viel Zeit nimmt, um die Leiden und die Einsamkeit des Opfers zu zeigen – in diesem Fall ein kleines Mädchen, das nicht nur mit geisterhaften Heimsuchungen, sondern auch mit dem Unglauben ihrer Mitmenschen kämpfen – und dabei überraschend einfühlsam vorgeht. Ironischerweise hat der Film da eine Schwäche, wo er eigentlich sehr stark ist. (Im Folgenden kommt vielleicht ein kleiner Spoiler.) Wir haben es hier nicht mit einem Problem-Bär, sondern mit einem Problem-Dämon zu tun. Die teuflische Nonne, die den Warrens die Hölle heiß macht, ist nämlich nicht nur teuflisch, sondern wirklich ein Teufel, lies Dämon, und kommt tatsächlich geradewegs aus der Hölle. Nun verlangt das Gesetz der Serie vermutlich die Steigerung. Wenn man von bösen Geistern zu Dämonen aufrüstet, gerät man aber schnell in eine alt bekannte Genre-Zwickmühle: einerseits ist da etwas unglaublich Mächtiges und Bedrohliches, das über Fähigkeiten verfügt, die das Menschliche weit überschreiten; andererseits muss dieses Mächtige und Bedrohliche ja irgendwie handhabbar gemacht werden (wenn es nicht gerade darum geht, die unbarmherzige und buchstäblich heillose Überlegenheit des Dämons zu zeigen, wie in Mike Flanagans brillantem Ocolus). Bei diesem Spagat haben sich schon mancher Film, manches Buch etwas angeknackst, und das geht The Conjuring 2 nicht anders. Das ist nicht wirklich schlimm, aber etwas schade. Denn gerade wenn man Gut und Böse und den Glauben so ernst nimmt, wie es Wans Film dankenswerterweise tut, will die Dämonologie gut durchdacht sein. Wobei wir wieder am Anfang wären: Die gute alte Gespenstergeschichte hat ja klare Regeln Aus jahrhunderterlanger Überlieferung „weiß“ man, wie sich Geister verhalten, was sie tun können, und was nicht. Das macht den Haunted House-Horror immer auch ein wenig anheimelnd (vielleicht mitunter zu anheimelnd), denn letztlich steht man auf sicherem Grund. Bei Dämonen sieht die Sache etwas anders aus; es sei denn man will den fünfhundertdreiundzwanzigsten Exorzismus auf die Bühne bringen, was natürlich auch immer wieder eine Gaudi ist. Mir scheint, dass dämonische Wesenheiten dann am besten gelingen, wenn sie irgendwie in Verbindung mit einer Kinderperspektive auftreten, wie bei Neil Gaiman oder im Alice-Film des großen Jan Švankmajer, und es wäre spannend darüber nachzudenken, warum das eigentlich so ist. Einstweilen verbleibe ich in der Hoffnung, dass die Warrens im angekündigten The Conjuring 3 nicht gegen Satan persönlich antreten müssen – dann mit Weihwasser-MG und Kruzifix-Drone. Schon als Kind war ich von der Vorstellung fasziniert, dass es nur ein dünner Schleier ist, der die Welt der Lebenden von jener der Toten trennt. Wir hatten eine schwarze Katze, die manchmal – ganz unvermittelt und aus unerfindlichen Gründen – begann, in eine Ecke des Wohnzimmers zu stieren, wo niemand saß, oder sogar die leere Luft anfauchte. Irgendwo hatte ich gelesen, oder jemand hatte es mir erzählt, dass Katzen die Toten sehen können. Und wenn sich unsere Katze, sie hieß sinnigerweise Blacky, so benahm, fragte ich mich, welche ungebetenen Besucher sich da ins Haus geschlichen haben mochten.
Ich nahm diese Vorstellung sehr ernst. Sie ließ mir wohlige Schauer den Rücken hinablaufen; zugleich hatte sie etwas zutiefst Beunruhigendes. Denn aus meinen Gruselgeschichten und Gespenstercomics wusste ich, dass die Seelen, die nicht im Grab verblieben, selten mit wohlmeinender Absicht zurückkamen. Andererseits hielt ich es für möglich, dass die Toten nicht – oder nicht nur – wegen uns hier waren. Vielleicht hatten sie in ihrer Welt ganz eigene Aufgaben zu meistern, ganz eigene Kämpfe zu bestehen. Vielleicht gab es Gründe dafür, dass einer der Ihren dort im Halbdunkel stand, die ich nicht einmal erahnte. Später, sehr viel später, wurde mir klar, dass derartige Vorstellungen nicht allein der kindlichen Phantasie entstammten. Vielerorts in Europa zählte es bis weit in die Neuzeit hinein zu den unerschütterlichen Überzeugungen des sogenannten Volksglaubens, dass die Verstorbenen irgendwie noch zu unserer Welt gehörten. Sie waren so gut oder so böse wie zu Lebzeiten; sie übten Berufe aus und verfügten über Geld; sie zechten in Wirtshäusern, die für Ihresgleichen bestimmt waren; sie versammelten sich in Kirchen, um Gespenstermessen zu feiern – und wehe den Lebenden, die eine solche Messe störten. Je mehr ich über diese Dinge erfuhr, desto unheimlicher und zugleich inspirierender fand ich sie: etwa den Brauch, Speisen und Getränke bereitzustellen für die ruhelosen Toten, die nachts in den Dörfern umgingen und mit dieser Gabe besänftigt werden sollten ... Oder die zahllosen Geschichten, die sich um die Wilde Jagd rankten, jenen Zug wütender Gespenster, der vornehmlich in den zwölf Rauhnächten nach Weihnachten übers Land streifte und unvorsichtige Wanderer mit sich nahm ... Oder das Wissen um die vielfältigen Arten von Wiedergängern, die über Jahrhunderte hinweg die Albträume der Bauern bevölkerten: der Nachzehrer, der im Grab an seinem Leichentuch nagte und so Krankheit und Verderben über seine Verwandtschaft brachte; oder den Aufhocker, der seinen Opfern an Wegkreuzungen auflauerte, Vorbeikommenden ins Genick sprang und ihnen dann das Leben aussaugte ... Irgendwann fiel mir auf, dass das Genre, welches wir als High Fantasy bezeichnen – so sehr es von überkommenen Sagen, Legenden und Mythen umgetrieben wird –, wenig von den Gespensterwelten des Volksglaubens zu wissen scheint. Sicherlich finden diese ihre Echos, beispielsweise in Rothfuss’ „Chandrian“ oder Martins „Others“, vielleicht auch in dem gelegentlichen Vampir oder Zombie; aber einen Fantasyroman, der seinen Weltentwurf um die Begegnungen und Konflikte zwischen dem Reich der Lebenden und der Toten anlegt und Letzteres als einen Ort zeichnet, der von den verschiedensten Wesenheiten bewohnt wird, die sich in ihrem geisterhaften Dasein ganz unterschiedlichen Zielen verschrieben haben – einen solchen Roman kannte ich nicht. Nun denke ich, dass das Gelingen von Fantasy wesentlich davon abhängt, dass uns die Sekundärwelt nicht einfach gezeigt wird, sondern dass wir, die Leserinnen und Leser, für die Dauer der Lektüre gleichsam übersiedeln in die Lande, wo die jeweilige Geschichte spielt. Es geht darum, dass wir die andere Welt sehen, fühlen, riechen und schmecken. Dass wir begreifen, was es bedeutet, in dieser Welt geboren zu werden, zu leben und zu sterben; mit ihren Gesetzen zu ringen, unter ihren Wahrheiten und Lügen zu leiden; in ihr das Glück zu suchen und das Unglück zu finden, oder, ganz unerwartet, zu erleben, dass eine Hoffnung sich erfüllt. Dann erlaubt uns Fantasy nicht einfach, wie ja nach wie vor oft behauptet wird, vor unserer Welt zu fliehen – sondern verändert in unsere Welt zurückzukehren: sie mit anderen Augen zu sehen; neue Gedanken und Gefühle zu haben, wenn wir uns mit den politischen, sozialen und moralischen Problemen unserer Zeit konfrontieren. Ich bin davon überzeugt, dass Fantasy, wenn sie wirklich gut ist, dies leisten kann. Die Frage, welcher Art diese Gedanken und Gefühle sind, lässt sich indessen nicht trennen von jener nach der Beschaffenheit der entsprechenden Sekundärwelt. Mittelerde fordert uns auf andere Weise heraus als Westeros oder Zamonien. In der Welt von Skargat gibt es einen Gasthof Zum Fröhlichen Toten, wo sich spitzige Schatten mit vermodernden Liebenden und untoten Babys treffen und ein dolchzähniger Wirt Eiter anrührt; es gibt den Schwarzen Jäger, der mit einem Zug grimmiger Toter durch die Nacht galoppiert und dessen Beute die Seelen Ruchloser sind; es gibt Männer, die foltern und morden, um sich Eintritt in die Gespensterwelt zu verschaffen. Und es gibt eine Handvoll mehr oder weniger verlorene Gestalten – Geächtete, Ausgestoßene und Flüchtlinge –, die sich plötzlich zwischen dem Reich der Lebenden und jenem der Toten wiederfinden und begreifen lernen, dass beiden Reichen eine furchtbare Gefahr droht, die auch nur in beiden bekämpft werden kann. Katzen spielen übrigens bislang keine größere Rolle. Falls sich das ändern sollte, werde ich mir noch einmal die Frage stellen, wen oder was Blacky damals in der leeren Zimmerecke anfauchte. (Dieser Beitrag ist zuerst erschienen am 21. Februar 2015 auf: https://verlorene-werke.blogspot.com/2015/02/autorenplausch-daniel-illger-skargat.html) |
AutorDaniel Illger |