Vorbemerkung: Im Sommer habe ich Rumänien bereist. Diese Reise hat mich aus einer Vielzahl von Gründen noch lange beschäftigt, nachdem ich das Land bereits wieder verlassen hatte. Irgendwann habe ich mich entschlossen, aus meinen verschiedenen Notizen einen Text zusammenzustellen, mit dem ich mir zumindest über einen Teil meiner rumänischen Erfahrung gewissermaßen Rechenschaft ablegen wollte. Hier also mein kleiner Reisebericht: Ganz im Norden Rumäniens, fast schon an der Grenze zur Ukraine, liegt – zwischen Feld, Wald und Hügeln – das Dorf Săpânța. Dieses Dorf ist weit über die Landesgrenze bekannt geworden, weil sich in ihm der „Fröhliche Friedhof“ befindet. Ich mag Friedhöfe, wollte mir also die Gelegenheit nicht entgehen lassen, diesen ganz besonderen Vertreter seiner Art zu besuchen. In der Nacht, die meinem Besuch vorangeht, schlafe ich schlecht. Dafür sind zum einen die Stechmücken verantwortlich, die sich gar nicht satt saugen können. Zum anderen ein überaus eifriger und ausdauernder Hahn, der schon Stunden vor Einbruch der Dämmerung zu krähen beginnt – gleich vor dem Zimmerfenster – und damit erst wieder aufhört, als der Morgen weit vorangeschritten ist. Vor allem aber ist für meine Schlaflosigkeit der Umstand verantwortlich, dass ich am Tag zuvor einen anderen Friedhof besucht habe: einen Armenfriedhof, auf dem einige der Männer verscharrt wurden, die zur Zeit des sogenannten Kommunismus in dem nahegelegenen Gefängnis von Sighet zugrunde gegangen sind. Der Armenfriedhof ist nun eine Gedenkstätte. Er liegt gleich an der Straße, die nach Săpânța führt. Und wenn man auf ihm umhergeht, hört man den Lärm der vorbeirauschenden Autos. Es ist ein drückend-heißer Nachmittag; Arbeiter polieren die Steinplatten, in welche die Namen der Opfer der Diktatur eingemeißelt sind, streunende Hunde suchen Zuflucht in den Schatten der Bäume, und auf einem Stück eingefriedeter Wiese befinden sich die Gräber der Gefangenen. Man kann diesen Teil des Friedhofs durch eine Lücke in der Hecke betreten, aber die vereinzelten Kreuze wirken so verloren, dass ich davor zurückschrecke, näher an sie heranzugehen. Unablässig rauscht der Verkehr, manchmal bellt ein Hund, das Licht sinkt schwer und gleißend vom ausgebleichten Himmel herab und ich fühle mich wie in einer Zeitblase, in der die Sekunden von Augenblick zu Augenblick langsamer verstreichen. Bald darauf sitze ich im Auto, der Armenfriedhof verschwindet im Rückspiegel, und wenn man mich fragte, ich wüsste kaum noch zu sagen, ob sich auf dem von der Hecke umgebenen Wiesenstück zehn oder fünfzig Gräber befinden. Als ich in der Nacht wach liege und mich wundere, wie es der Hahn durchhält, über Stunden hinweg markerschütternd zu krähen, denke ich allerdings nicht an den Friedhof, auf dem einige der Toten des Gefängnisses von Sighet liegen, sondern an das Gefängnis selbst. Foto von Cristian Bejan (Eigenes Werk) [CC BY-SA 3.0 rovia via Wikipedia Commons Auch das Gefängnis ist eine Gedenkstätte, seit vielen Jahren schon, und ich habe es unmittelbar vor dem Friedhof besucht („besucht“ – was für ein seltsames Wort in diesem Zusammenhang). An die vier Stunden bringe ich in der Gedenkstätte zu und schiebe mich mit dem Strom der anderen Besucher durch die über achtzig Ausstellungsräume, die großenteils in ehemaligen Zellen untergebracht sind. Da ich Rumänisch nicht verstehe, also keine der unzähligen Schrifttafeln lesen kann, bin ich auf die Ausführungen eines Begleitheftes angewiesen, das in verschiedenen Sprachen an die wenigen ausländischen Touristen verteilt wird. Vielleicht fällt es mir deshalb so schwer, zu begreifen, was für ein Ort dieses Gefängnis gewesen ist. („Es war ein Vernichtungsgefängnis“, sagt eine rumänische Bekannte.) Offenbar wurden hier hochrangige oder aufgrund ihres Einflusses und Intellekts als besonders bedrohlich eingestufte Männer eingesperrt – Politiker, Wissenschaftler, Schriftsteller, Geistliche verschiedener Konfessionen –, die gleichsam aus der Wirklichkeit getilgt, aber nicht gleich hingerichtet werden sollten. Die Auslöschung der Persönlichkeit ging so weit, dass die Gefangenen nicht einmal das Recht hatten, ihren Namen zu nennen. Anscheinend war ihnen, abgesehen von Atmen und still in ihren einsamen Zellen sitzen, annährend alles verboten. Für kleinste Vergehen konnten sie mit oft tagelanger Isolationshaft in lichtlosen, kahlen Zellen, nahezu ohne Luftzufuhr, bestraft werden, wo man sie nackt an den Boden kettete. Die meisten Häftlinge überstanden nicht einmal zwei Jahre in dem Gefängnis zu Sighet: so elend war die Verpflegung, so grausam die Behandlung durch die Wärter, so trostlos das Ausharren. Während die Mücken surren, der Hahn kräht und ich darauf warte, dass die Sonne aufgeht, versuche ich es mir vorzustellen: tagein, tagaus in einem kleinen, feuchten, ewig düsteren Raum leben zu müssen, ohne Bücher, ohne Gespräch, ohne die Ablenkung der Arbeit, ja sogar ohne einen Namen, in ständiger Angst vor Gewalt und Demütigungen, hungernd, nicht einmal wissend, wie lange man eingesperrt bleiben wird, vielleicht ein Jahr, vielleicht für immer, oder ob einen morgen die eigene Hinrichtung oder ein Verhör in irgendeinem Kellerraum erwartet, sodass der zehnminütige Hofgang das einzige Glücksversprechen ist, die einzige Zukunft, die man zu erwarten wagt. Und ich denke, dass das Gefängnis von Sighet vielleicht weder auf die Umerziehung, noch auf den Tod der Gefangenen zielt – obgleich das eine, verstanden als gewaltsames Zerbrechen des Willens, wie auch das andere die häufigste Folge der Haft gewesen sein mag – sondern darauf, die Insassen schon zu Lebzeiten in Gespenster zu verwandeln. In der Nacht regnet es immer wieder. Als ich am Morgen den Fröhlichen Friedhof betrete, ist der Himmel wolkenverhangen und zwischen den enggesetzten Gräbern haben sich große Pfützen gebildet, von denen einige aussehen, als würden sie in bodenlose Tiefe reichen. Dennoch füllt sich der Friedhof bald mit Besuchern, die gleich busweise herbeigeschafft werden, und ich versuche, mich daran zu erinnern, was ich über den Ort weiß. Der Holzschnitzer, Maler und Dichter Stan Ioan Pătraș, geboren 1907 oder 1908, gestorben 1977, hat hier ein Kunstwerk geschaffen, das, so liest man, dem Tod seinen Schrecken nehmen soll. An die siebenhundert Grabkreuze hat er gestaltet, darunter sein eigenes. Die Kreuze sind in Blau gehalten, mit bunten Verzierungen sowie einem pfeilförmigen Dach versehen, der himmelwärts zu weisen scheint, also die vermutlich bevorzugte Reiserichtung der Toten angibt. Was die Kreuze aber vor allem auszeichnet, ist das im Stil naiver Malerei gehaltene Porträt der Toten, das sie ziert, sowie das unterhalb des Porträts angebrachte Gedicht, das in wenigen Versen – mal spöttisch-vergnügt, mal wehmütig, mal bitter – das Leben des oder der Verstorbenen gleichsam auf den Punkt zu bringen sucht. Foto von Marian Gabriel Constantin from Suceava, ROMANIA (Cimitirul vesel) [CC BY-SA 2.0 via Wikimedia Commons In der deutschen Übersetzung von Rodica-Cristina Țurcanu liest sich das etwa so: „Hier ruhe ich, sogar, Man nennt mich Ion Husar. Sehet mich, bitte, genauer an: Guten Schnaps hab’ ich gebrannt und in Fässer ihn getan. Kommet’, ihr Männer, zu mir! Schnaps, in die Flasche, bekommet ihr. Bringet ihn euren Liebsten auch, Den Schnaps von der Pflaum’! Und trinket fröhlich. Schnaps von der Kirsch bekommet ihr. Und trinket mit euren Frau’n. Und trinket auf mich. Dein weiter bekommt ihr mich nicht zu Gesicht: Mit 38 Jahren, verziehe ich mich.“ Oder: „Da legt’ ich mich hin zur ewigen Ruhe, Ich, die Greisin des Greises Ilie. Zeit meines Lebens mocht’ ich die Kühe. Die Milch zu melken meinen Töchtern die tägliche Nahrung zu schenken. Mit 58 verlass ich die Welt hienieden, Und gehe heim, zufrieden...“ Oder: „Her hab’ ich mich zur Ruhe gelegt Ich, Pop Ileană, und jung vermählt, Wie man es pflegt. Ein guter Mann hat mich zur Frau genommen Nur hatt’ ich leider kein Glück, Mit ihm zu leben, noch ein Stück. Zwei Kindern gab ich das Leben. Eins ist dem Tode geweiht. „Dies nehm’ ich mir mit.“ Sagt sie sich, Und mit fünfundzwanzig, ins Jenseits tritt.“ Ich weiß nicht, ob es an der beinah schlaflosen Nacht liegt, an dem trüben Wetter oder an den Sigheter Erinnerungen – jedenfalls kommen mir die Grabkreuze von Meister Pătraș nicht sehr fröhlich vor. Es liegt eine harsche Endgültigkeit in diesen unbekümmert-ungelenken Gedichten, als könnte man ein Leben wirklich in einer Handvoll Zeilen erledigen, es auf den unabänderlichen Kern seiner Wahrheit zusammenschrumpfen, in dem man sagt: Sie hieß so und so, webte und spann, hatte drei Kinder, vertrug sich leidlich mit ihrem Mann und starb mit zweiundsechzig Jahren. Und die Bilder, die den Menschen bei der sein Dasein bestimmenden Arbeit, in einer für ihn sozusagen unvermeidlichen Haltung einzufangen suchen – beim Mähen oder Jagen oder Fahrradfahren oder Trinken oder Essen oder eben Spinnen – verstärken diesen Eindruck, indem sie in den entindividualisierten, typenhaften Gestalten der naiven Malerei eine vielleicht amüsante, vor allem jedoch unüberwindliche, geradezu schicksalshafte Erstarrung und Determiniertheit behaupten. Ein paar Tage vor Sighet und Săpânța haben wir eine Wanderung in der Gegend des, ebenso wie jene anderen Orte, im Kreis Maramureș gelegenen Dorfes Moisei unternommen, das 1944 von ungarischen Soldaten niedergebrannt wurde, nachdem sie neunundzwanzig der Einwohner erschossen hatten. („Brutal erschossen“ sagt der Reiseführer – wie erschießt man jemanden nicht-brutal?) Wir hatten uns nicht gerade verirrt, waren aber unsicher, welche Richtung wir einschlagen sollten, um den Hügel zu erreichen, den wir besteigen wollten. Also wandten wir uns an eine Frau, die gerade aus einem beim Weg gelegenen Haus trat. Es stellte sich heraus, dass wir uns auf Italienisch verständigen konnten, und bald darauf fanden wir uns im Wohnzimmer der Fremden wieder, die sich uns als Ana vorstellte. Zuerst lud sie uns zu einem Bier ein; dann zu russischem Salat und Fleischklößchen; schließlich – unterdessen waren eine Nachbarin und Anas Partner Luciano hinzugekommen – zu Țuică de Prune, selbstgebranntem Pflaumenschnaps. Als wir uns ein paar Stunden später verabschiedeten, hatten wir nicht nur in Erfahrung gebracht, was der richtige Weg war, sondern auch, dass Ana und Luciano seit vielen Jahren in Mailand leben und arbeiten, wo sie sich kennengelernt haben, und dieses Haus, das seit Generationen im Besitz von Anas Familie ist, zu ihrem Refugium in dem Ort, dem sie zufällig beide entstammen, gemacht haben. Außerdem konnten wir, ehe wir Lebwohl sagten, mit Anas fast achtzigjährigem Bruder Ion anstoßen, dessen heiter-melancholisches Lächeln mir lange im Gedächtnis bleiben wird. Es ist vielleicht das erste Mal, dass ich mich einem Menschen, mit dem ich keine Sprache teile, in dessen Gesellschaft ich nur wenige Minuten verbringe und den ich wahrscheinlich niemals awiedersehen werde, auf eine Art verbunden fühle, als hätte ich ihn lange Jahre gekannt. Foto von Daniel Illger (privat) An diese unerwartete Begegnung denke ich, während ich dies hier schreibe. Dann schiebt sich ein anderes Bild über die Erinnerung an diese frohen Stunden. Es ist das Bild des sogenannten „Hauses des Volkes“, das sich der rumänische Diktator Nicolae Ceauseșcu errichten lassen wollte – wohl als steinernes Abbild der eigenen Größe –, das aber, nach über sechsjähriger Bauzeit, noch nicht fertig gestellt war, als die Wechselfälle der Geschichte ihn und seine Frau Elena von den Höhen der Macht kippten und, am 25. Dezember 1989, vor einem a abluden. Heute firmiert das „Haus des Volkes“ unter der ebenfalls bedenkenswerten Bezeichnung „Palast der Republik“ und dient als Sitz beider Kammern des rumänischen Parlaments. Wobei „Palast“ sicherlich das treffendere Wort für dieses „Haus“ ist, das über eine Grundfläche von 65.000 Quadratmetern verfügt, annähernd dreihundert Meter lang ist und 5100 Zimmer, Säle, Hallen und Flure in sich schließt, darunter Salons, die eine Größe von 2000 Quadratmetern erreichen. Man weiß, dass Nicolae Ceauseșcu, der Anfang der 70er Jahre als großer Staatsmann und Reformer galt und sogar für den Friedensnobelpreis gehandelt wurde, ein ganzes Stadtviertel hat abreißen lassen, um Platz für seinen Traum zu schaffen. Man weiß auch, dass 25.000 Mann ständig im Dreischicht-System an dem Palast arbeiten, dass die Ceauseșcus die Baustelle 428 Mal besuchten und nach Lust und Laune Änderungen an den architektonischen Plänen befahlen, dass 3500 Tonnen Kristall und 700.000 Tonnen Stahl verbaut wurden und die gold- und silberbestickten Samt- und Brokatvorhänge, die die Fenster des Gebäudes zieren, zusammengenommen eine Fläche von 200.000 Quadratmetern abdecken würden. Foto von Daniel Illger (privat)
Wie so oft sagen die Zahlen und Statistiken zugleich alles und nichts. Sie sagen wenig über den Widerwillen, bis hin zu bitterem Ekel, der die Miene der durchaus freundlichen und gesprächigen Hotelmitarbeiterin verdunkelt, eine Frau um die fünfzig, als wir sie auf das Bauwerk ansprechen. Sie sagen auch wenig über den bizarren, eigentlich lachhaften Eindruck, den der gigantische Palast und die ihn umgebenden Prachtstraßen erwecken, wenn man sich dem Ensemble von der Altstadt Bukarests her nähert. Auf mich wirkt es, als wären infolge eines kosmischen Unfalls, eines unbegreiflichen Risses im raumzeitlichen Gefüge des Universums, zwei Städte, die nicht das Geringste miteinander zu tun haben, die verschiedenen Epochen und vielleicht gar verschiedenen Welten entstammen, ineinander geschoben worden. Ich verspüre wenig Neigung, mich für eine Besichtigung des „Palastes der Republik“ anzumelden. Als ich vor dem Gebäude stehe, denke ich an eine Anekdote, die Jochen Schmidt in seiner „Gebrauchsanweisung für Rumänien“ kolportiert: „Die Treppenstufen hatten eine spezielle Höhe, Ceaușecu wollte nicht außer Atem kommen. Die riesige Treppe von rechts war für ihn gedacht, die von links für seine Frau, in der Mitte wollten sie sich treffen und ihre Gäste begrüßen.“ Nach allem, was ich höre, ist der „Palast der Republik“ – der parlamentarischen Geschäftigkeit zum Trotz – heute weitgehend ungenutzt. Dabei könnte er in der Tat zahllose Gäste beherbergen. Ich kann nicht anders, ich muss mir vorstellen, wie es wäre, einen phantastischen Roman zu schreiben, in dem ein derartiger Monumentalbau eine Rolle spielt. (Später erfahre ich, dass Jan Koneffke, der den Palast ein „so künstliches wie gigantisches Gruselschloss“, ein „riesenhaftes urzeitliches Tier“, die „wirkliche Emanation eines bösen Traums“ nennt, bereits dieselbe Idee gehabt hat.) In meinem Roman wäre der „Palast der Republik“ ein Mittelding aus Hotel und Friedhof. Viele hundert leere, schweigsame Zimmer ständen bereit, um die Geister derjenigen zu beherbergen, die sich verlaufen haben auf dem Weg vom Leben in den Tod. Eigentlich wäre ihre gewaltige Herberge nur als Zwischenstation gedacht. Aber weil sie so groß ist, würden viele der Gäste, anstatt für die weitere Reise zu verschnaufen, erst recht die Orientierung verlieren. Nacht für Nacht würden sie durch die Flure und Korridore, Säle und Salons irren und zunehmend verzweifelt nach einem Ausgang suchen. So würden Wochen, Monate und Jahre vergehen. Am Ende bliebe den erschöpften, ratlosen Geistern nichts anderes übrig, als darauf zu hoffen, dass früher oder später die Zeit und die Schwerkraft den Weg weisen würden – in die Freiheit oder wenigstens ins Nichts.
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AutorDaniel Illger |