DANIEL ILLGER
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JOURNAL

Von Lebenden und Toten

2/21/2015

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Schon als Kind war ich von der Vorstellung fasziniert, dass es nur ein dünner Schleier ist, der die Welt der Lebenden von jener der Toten trennt. Wir hatten eine schwarze Katze, die manchmal – ganz unvermittelt und aus unerfindlichen Gründen – begann, in eine Ecke des Wohnzimmers zu stieren, wo niemand saß, oder sogar die leere Luft anfauchte. Irgendwo hatte ich gelesen, oder jemand hatte es mir erzählt, dass Katzen die Toten sehen können. Und wenn sich unsere Katze, sie hieß sinnigerweise Blacky, so benahm, fragte ich mich, welche ungebetenen Besucher sich da ins Haus geschlichen haben mochten.
Ich nahm diese Vorstellung sehr ernst. Sie ließ mir wohlige Schauer den Rücken hinablaufen; zugleich hatte sie etwas zutiefst Beunruhigendes. Denn aus meinen Gruselgeschichten und Gespenstercomics wusste ich, dass die Seelen, die nicht im Grab verblieben, selten mit wohlmeinender Absicht zurückkamen. Andererseits hielt ich es für möglich, dass die Toten nicht – oder nicht nur – wegen uns hier waren. Vielleicht hatten sie in ihrer Welt ganz eigene Aufgaben zu meistern, ganz eigene Kämpfe zu bestehen. Vielleicht gab es Gründe dafür, dass einer der Ihren dort im Halbdunkel stand, die ich nicht einmal erahnte.
Später, sehr viel später, wurde mir klar, dass derartige Vorstellungen nicht allein der kindlichen Phantasie entstammten. Vielerorts in Europa zählte es bis weit in die Neuzeit hinein zu den unerschütterlichen Überzeugungen des sogenannten Volksglaubens, dass die Verstorbenen irgendwie noch zu unserer Welt gehörten. Sie waren so gut oder so böse wie zu Lebzeiten; sie übten Berufe aus und verfügten über Geld; sie zechten in Wirtshäusern, die für Ihresgleichen bestimmt waren; sie versammelten sich in Kirchen, um Gespenstermessen zu feiern – und wehe den Lebenden, die eine solche Messe störten.
Je mehr ich über diese Dinge erfuhr, desto unheimlicher und zugleich inspirierender fand ich sie: etwa den Brauch, Speisen und Getränke bereitzustellen für die ruhelosen Toten, die nachts in den Dörfern umgingen und mit dieser Gabe besänftigt werden sollten ... Oder die zahllosen Geschichten, die sich um die Wilde Jagd rankten, jenen Zug wütender Gespenster, der vornehmlich in den zwölf Rauhnächten nach Weihnachten übers Land streifte und unvorsichtige Wanderer mit sich nahm ... Oder das Wissen um die vielfältigen Arten von Wiedergängern, die über Jahrhunderte hinweg die Albträume der Bauern bevölkerten: der Nachzehrer, der im Grab an seinem Leichentuch nagte und so Krankheit und Verderben über seine Verwandtschaft brachte; oder den Aufhocker, der seinen Opfern an Wegkreuzungen auflauerte, Vorbeikommenden ins Genick sprang und ihnen dann das Leben aussaugte ...
Irgendwann fiel mir auf, dass das Genre, welches wir als High Fantasy bezeichnen – so sehr es von überkommenen Sagen, Legenden und Mythen umgetrieben wird –, wenig von den Gespensterwelten des Volksglaubens zu wissen scheint. Sicherlich finden diese ihre Echos, beispielsweise in Rothfuss’ „Chandrian“ oder Martins „Others“, vielleicht auch in dem gelegentlichen Vampir oder Zombie; aber einen Fantasyroman, der seinen Weltentwurf um die Begegnungen und Konflikte zwischen dem Reich der Lebenden und der Toten anlegt und Letzteres als einen Ort zeichnet, der von den verschiedensten Wesenheiten bewohnt wird, die sich in ihrem geisterhaften Dasein ganz unterschiedlichen Zielen verschrieben haben – einen solchen Roman kannte ich nicht.
Nun denke ich, dass das Gelingen von Fantasy wesentlich davon abhängt, dass uns die Sekundärwelt nicht einfach gezeigt wird, sondern dass wir, die Leserinnen und Leser, für die Dauer der Lektüre gleichsam übersiedeln in die Lande, wo die jeweilige Geschichte spielt. Es geht darum, dass wir die andere Welt sehen, fühlen, riechen und schmecken. Dass wir begreifen, was es bedeutet, in dieser Welt geboren zu werden, zu leben und zu sterben; mit ihren Gesetzen zu ringen, unter ihren Wahrheiten und Lügen zu leiden; in ihr das Glück zu suchen und das Unglück zu finden, oder, ganz unerwartet, zu erleben, dass eine Hoffnung sich erfüllt. Dann erlaubt uns Fantasy nicht einfach, wie ja nach wie vor oft behauptet wird, vor unserer Welt zu fliehen – sondern verändert in unsere Welt zurückzukehren: sie mit anderen Augen zu sehen; neue Gedanken und Gefühle zu haben, wenn wir uns mit den politischen, sozialen und moralischen Problemen unserer Zeit konfrontieren. Ich bin davon überzeugt, dass Fantasy, wenn sie wirklich gut ist, dies leisten kann.
Die Frage, welcher Art diese Gedanken und Gefühle sind, lässt sich indessen nicht trennen von jener nach der Beschaffenheit der entsprechenden Sekundärwelt. Mittelerde fordert uns auf andere Weise heraus als Westeros oder Zamonien.
In der Welt von Skargat gibt es einen Gasthof Zum Fröhlichen Toten, wo sich spitzige Schatten mit vermodernden Liebenden und untoten Babys treffen und ein dolchzähniger Wirt Eiter anrührt; es gibt den Schwarzen Jäger, der mit einem Zug grimmiger Toter durch die Nacht galoppiert und dessen Beute die Seelen Ruchloser sind; es gibt Männer, die foltern und morden, um sich Eintritt in die Gespensterwelt zu verschaffen. Und es gibt eine Handvoll mehr oder weniger verlorene Gestalten – Geächtete, Ausgestoßene und Flüchtlinge –, die sich plötzlich zwischen dem Reich der Lebenden und jenem der Toten wiederfinden und begreifen lernen, dass beiden Reichen eine furchtbare Gefahr droht, die auch nur in beiden bekämpft werden kann.
Katzen spielen übrigens bislang keine größere Rolle. Falls sich das ändern sollte, werde ich mir noch einmal die Frage stellen, wen oder was Blacky damals in der leeren Zimmerecke anfauchte.

(Dieser Beitrag ist zuerst erschienen am 21. Februar 2015 auf: https://verlorene-werke.blogspot.com/2015/02/autorenplausch-daniel-illger-skargat.html)

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