DANIEL ILLGER
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JOURNAL

Von Zeit und Baum

9/12/2017

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In dem Dorf Tsagarada, auf der griechischen Halbinsel Pilion, steht eine tausendjährige Platane. Ich wusste das nicht, als ich das Dorf zum ersten Mal betrat. Meine Absicht war es, den nördlichen Pilion, so weit machbar, auf den Kalderimia, den alten, gepflasterten Eselspfaden, zu durchwandern. Am Vortag war ich von dem Küstenstädtchen Agria nach Ano Lechonia gegangen und von dort aus der Trasse der Schmalspurbahn gefolgt, die über etwa zwanzig Kilometer nach Milies führt. Anfang des letzten Jahrhunderts erbaut, ist diese Bahn nur noch während der Sommermonate im Einsatz, sodass ich jetzt, im März, unbedenklich auf den Schienen wandern konnte, wo das nötig war.
Als ich am folgenden Morgen in Milies aufbrach, stieg Nebel aus den Wäldern, hüllte die Berge ein und verschleierte den Blick auf die tiefer gelegenen Olivenhaine und die Bucht des Pagasitischen Golfs. Zum ersten Mal, seit ich in Griechenland angekommen war, nieselte es. Ein rauchiger Geruch durchzog das Dorf, das in dieser Stunde völlig verlassen schien: enge, grob gepflasterte Gassen und Treppen; ebenso schöne wie trutzige Steinhäuser, die mir vorkamen, als wären sie seit langer Zeit unbewohnt. Die auf dem Pilion allgegenwärtigen Wach- und Hofhunde erinnerten mich mit ihrem hartnäckigen Gebell freilich daran, dass dem nicht so war.
Ein Blick auf die Karte hatte mir gezeigt, dass Tsagarada das günstigste (oder auch einzig mögliche) Ziel war auf der Wanderung nach Zagora, der größten Ortschaft des Pilion. Also folgte ich dem Pfad in die Hügel. Er durchquerte die dichten, weitläufigen Wälder, für die der nördliche Teil der Halbinsel bekannt ist – Kiefern, Eichen, Platanen, mannshohe Farne –, aber auch düster-verkarstete Schneisen, die Brände in diese Wälder geschlagen haben. Einmal löste sich der Weg in Gestrüpp und Buschwerk auf; man musste sich einige Meter durch das Dickicht kämpfen, um ihn wiederzufinden. Ein andermal geriet ich in Gedanken (ich weiß nicht, was für welche) und stellte plötzlich fest, dass ich schon seit längerem in die falsche Richtung lief. Glücklicherweise traf ich einen Waldarbeiter, der seine Kettensäge beiseite stellte und mir mit Händen und Füßen erklärte, wohin ich meine Schritte zu lenken hatte, nachdem ich ihm auf der Karte gezeigt hatte, was mein Ziel war.
Die Wanderung nach Tsagarada mochte etwa fünf Stunden gedauert haben. Eine weitere Stunde dauerte es, von der Bogenbrücke, bei welcher der Weg endet, zu dem Ortsteil Agia Paraskevi zu gelangen – denn Tsagarada zieht sich über manchen Kilometer durch die Hügel, sodass es einem unkundigen Besucher eher vorkommen mag, er durchquere eine Handvoll winziger, aneinander anschließender Dörfer. In Agia Paraskevi angekommen, kaufte ich mir ein Bier, setzte mich auf eine Wiese und betrachtete – wie jeden Abend – eine Weile lang die Berge, den Wald und das Meer. Es ist auch das, was ich beim Wandern lerne: einfach gar nichts zu tun und mich in den Fluss der vorbeiströmenden Sekunden und Minuten einsinken lassen.
Nach einer Weile dann holte ich den Reiseführer hervor, um herauszufinden, ob es etwas in diesem Tsagarada zu sehen gäbe. Da erfuhr ich von der tausendjährigen Platane; ich erfuhr auch, dass dieser offenbar weithin berühmte Baum in dem Teil des Ortes stand, in dem ich mich gerade aufhielt und den man mir als „town center“ genannt hatte. So beschloss ich dann, mir die Platane anzuschauen, ehe ich mir eine Unterkunft für die Nacht und eine Taverne zum Einkehren suchte.

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Foto von Konstantinos Stampoulis (eigenes Werk) ICC-BY-SA-3.0-GR via Wikipedia Commons
In den Skargat-Büchern erzähle ich von einem Baum, der wohl ungefähr so alt ist wie die Platane von Tsagarada. Es handelt sich um eine Linde. „Ihr Stamm (...) hatte die Farbe von altem Blut. Durch ihr hellgrünes, prachtvolles Blätterkleid ging immer ein leises Rauschen. Selbst, wenn es windstill war. Und obwohl bereits der Herbst nahte, schmückten unzählige sternförmige Blüten ihre Zweige.“ So habe ich die Linde im ersten Skargat-Band beschrieben. Ich muss bekennen, vor meinem Besuch in Tsagarada, habe ich noch nie einen tausendjährigen Baum gesehen. Ansonsten hätte ich die Linde in Skargat vielleicht anders gehandhabt. Nicht, weil sie magisch ist. Sondern, weil sie nicht magisch genug ist.
Es fällt mir schwer zu beschreiben, welche Wirkung von dieser Platane ausgeht. Sie steht auf einem kleinen Platz, der von einer Kirche und ein paar Tavernen gesäumt ist. Tische und Stühle wiesen darauf hin, dass die Leute hier zu sitzen, zu essen und zu trinken pflegen, doch an diesem Abend war ich allein mit der Platane. Ihr Stamm hat einen Umfang von vierzehn Metern. Aber das ist nicht das Entscheidende. Einer ihrer Äste ist so wuchtig, dass er wie ein zweiter Baum wirkt, der aus der Verknotung des Stammes herausgewachsen ist, und in ihren äußersten Verstrebungen reichen die Zweige so weit, dass mir in der Erinnerung scheinen will, der Dorfplatz von Agia Paraskevi werde völlig von der Platane überspannt. Doch auch das ist nicht das Entscheidende.
Entscheidend ist, dass die Platane nicht den Eindruck erweckt, als bestehe sie aus Holz. Ihre Rinde sieht nicht aus und fühlt sich nicht an wie die Rinde anderer Bäume. Es ist, als sei die Platane aus einem lebenden, fühlenden Fels erwachsen; oder habe sich im Lauf der Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte langsam in etwas verwandelt, was weder Stein ist noch Mineral oder Gewebe. So erscheint die Platane von Tsagarada wie ein Lebewesen aus einer anderen Weltenzeit; wirkt in Wahrheit noch sehr viel älter, als sie es ist; so alt, dass man meinen könnte, sie habe überdauert von einer frühen Dämmerung her, da längst kein Mensch die Wälder durchstreifte.
Umso erstaunter war ich zu sehen, dass Schnitzereien in die Rinde der Platane geritzt sind. Schnitzereien der Art, dass da zwei Buchstaben stehen, mit einem Pluszeichen verbunden und von einer Linie in Form eines Herzens umgeben. Und nicht wenige von ihnen. Es wunderte mich, dass sich die Leute trauten, die Platane mit solchen Trivialitäten zu behelligen. Mir kam das ungebührlich vor. Ein bisschen lächerlich, und ja, auch vorwitzig.
Etwa ein Woche später kam ich nach Athen. Nach einer ruhigen Nacht in der Plaka gelang es mir, die touristische Großtat zu vollbringen, als Erster eine Eintrittskarte für die Akropolis zu kaufen (daheim hatte man mir mit der Trennung gedroht, sollte ich es wagen, mich um diese Besichtigung zu drücken), sodass ich die Tempelruinen eine kurze Zeit lang fast für mich alleine hatte.
Ich war überrascht, wie entrückt und friedlich sich der Ort anfühlte. So, als würde man tatsächlich in einer anderen Zeit schweben: im golden-diesigen Morgenlicht, hoch über den Dächern Athens, die sich bis in unabsehbare Ferne erstrecken, und umgeben von dem immerwährenden Rauschen des Stadtverkehrs, der wie das Murmeln übellauniger und verstockter Götter klingt.
Gar so alleine war ich denn übrigens doch nicht. Abgesehen von ein paar anderen eifrigen Touristen gab es die unvermeidlichen Bauarbeiter und Restauratoren sowie eine Reihe von Katzen, die wohl ganz gut leben von den Zuwendungen der Akropolis-Angestellten und -Besucher. Und es gab einen Trupp Soldaten. Letzterer hat für eine besondere Attraktion gesorgt, die ich zugegebenermaßen eine Weile lang faszinierender fand als sämtliche Tempelruinen. Unter dem lautstarken Kommando ihres Offiziers sind diese Soldaten quer über die Akropolis gestapft, dabei verschiedene Arten von Marschschritt demonstrierend, um die griechische Flagge am – vermute ich – höchsten Punkt des Tempelberges zu hissen.
Zunächst waren sie, sechs Gewehr- und ein Fahnenträger sowie der Offizier, alleine auf ihrem Marsch. Bald aber schloss sich ihnen eine kleine Gruppe Touristen an, die in mehr oder weniger respektvollem Abstand folgte. Bis die Flagge dann ein Stück weit der glimmenden Morgensonne entgegen stieg, während die Soldaten, die vermutlich nicht für die Schönheit ihrer Singstimmen ausgesucht wurden, aus vollen Kehlen die griechische Hymne brüllten.
Während ich dieses Schauspiel betrachtete, musste ich an die tausendjährige Platane von Tsagarada denken. Plötzlich meinte ich zu verstehen, was es mit den Schnitzereien auf sich hat. Ist es nicht am Ende eine ähnliche Sache, so fragte ich mich, in den Stamm eines tausendjährigen Baumes Initialen und Herzchen einzuritzen und auf der Akropolis eine Flagge zu hissen? Geht es vielleicht in beiden Fällen darum, etwas so Zerbrechliches und Flüchtiges wie das eigene Leben, die eigene Liebe oder die Vorstellung, die man sich von seiner Heimat macht, an etwas zu überantworten, das, nach menschlichen Maßstäben, unvorstellbar alt ist und die Zeiten zu überdauern verspricht?

Die letzte Etappe meiner Pilion-Wanderung, ehe ich nach Zagora kam, sollte das Küstendorf Chorefto sein – ein Dorf, das, nach allem was ich höre, im Sommer so voll ist, dass man froh sein kann, am Strand genügend Platz zu finden, um sein Handtuch auszubreiten.
Als ich das Dorf betrat, war es hingegen verwaist. Die Holzläden an den Fenstern waren geschlossen, die Geschäfte, Bars und Restaurants leblos; Stille lag über den Straßen und Häusern, nur durchbrochen von dem ewigen, murmelnden Selbstgespräch des Meeres. Der Strand war ebenfalls leer: weißer Sand, so weit das Auge reicht. In einiger Entfernung sah ich ein junges Paar. Er machte ein Foto von seiner Freundin, vor dem Hintergrund der leuchtend blauen, von funkelnden Lichtern übertanzten Wasser. Dann stiegen die beiden in ihr Auto und fuhren davon. Zurück auf der Hauptstraße von Chorefto entdeckte ich ein weiteres Lebenszeichen: ein paar Männer waren damit beschäftigt, Reparaturen an der Leuchtreklame eines Restaurants vorzunehmen. Und ich sah ein Rudel halbwilder Hunde – auch das gibt es häufiger auf dem Pilion.
Einer der Hunde folgte mir, als ich mich umdrehte und auf der Hauptstraße zurückging. Während ich meine Trinkflasche an einem Brunnen füllte und mich, nicht zum ersten Mal auf dieser Wanderung, fragte, wo und wie ich heute Nacht schlafen würde, wartete der Hund in einigem Abstand. Und noch, als ich einen Pfad einschlug, der hügelwärts in Richtung Zagora führte, trabte er ein Stück weit hinter mir her.
Ein alter Gedanke, unendlich oft gedacht, aber, meine ich, doch von keinem Menschen zu begreifen: Wie seltsam es eigentlich ist, dass wir einen winzigen Ort in der Zeit bewohnen, durch einen unüberwindlichen Abgrund von allem getrennt, was vorher kam und nachher kommen mag. Da kann man Geschichte treiben, so viel man will – letztlich weiß niemand, wie es sich angefühlt haben mag, vor fünfhundert Jahren im Schatten der Platane von Tsagarada zu ruhen.

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Foto von ΒΟΡΕΑΚΟΣ ΑΘΑΝΑΣΙΟΣ (eigenes Werk) ICC-BY-SA-4.0-GR via Wikipedia Commons
In alten Zeiten war der Hund ein Sinnbild der Melancholie. Ich denke oft an ihn (oder sie?), der mich ein paar Minuten lang durch die Straßen von Chorefto begleitet hat. Aber ich weiß nicht mehr, wie er aussah. Noch öfter denke ich an den tausendjährigen Baum, in dessen Lebenspanne mein Besuch ja nicht einmal ein Lidzucken war. Ich denke an Tsagarada, ich denke an den Dorfplatz von Agia Paraskevi, und ich denke daran, wie es war, die Hand an den Stamm der uralten Platane zu legen. Doch ich könnte nicht beschwören, dass das, was ich hier aufgeschrieben habe, wirklich etwas mit meinen Gedanken und Gefühlen an jenem Märzabend zu tun hat. Und selbst, wenn mein Leben davon abhinge, wäre ich nicht in der Lage, mich auch nur an ein einziges der Buchstabenpaare zu erinnern, die irgendwer, irgendwann eingeritzt hat, dort in das felsige Holz der Platane, während ein Moped durch die Straßen des Dorfes knatterte, der Kellner in der nahegelegenen Villa ton Rodon etwas Wein einschenkte, und der Wind mit vorjährigen Blättern spielte.

2 Kommentare
Katrin link
9/13/2017 07:20:08 pm

Vielen Dank für die schönen Zeilen. Bäume zeigen uns immer, wie kurz eigentlich unser Leben ist und wie unbedeutend wir sind. Gruß aus Thüringen von Katrin

Antwort
Daniel Illger
9/15/2017 09:28:25 pm

Gerne! Wenn ich mir so einen Baum ansehe, bekomme ich eine Ahnung davon, dass es möglich sein könnte, Zeit und Raum auch ganz anders zu erfahren, als wir es tun - das hat etwas Befreiendes.

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